Entleerte Räume, Rettungsversuche, Erklärungsmuster, Lernprozesse – und vor allem Menschen, die unermüdlich daran arbeiten, die Grundversorgung aller sicher zu stellen.

STILLSTAND dokumentiert über zwei Jahre hinweg am Beispiel der Millionenstadt Wien die Krise: Mit Covid 19 trifft im Frühjahr 2020 eine globale Pandemie in nie dagewesener Wucht die Menschheit mit all ihren vermeintlichen Sicherheiten und scheinbar perfekten Routinen.


SYNOPSIS

Als im März 2020 130 Staaten nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie eine „restriktive Massenquarantäne“ ausrufen, legt die Krise auch in Österreich und der Millionenstadt Wien über zwei Jahre und drei große Lockdowns hinweg immer wieder das öffentliche Leben für Monate lahm. Grenzen und Betriebe sind geschlossen, Außenräume verwandeln sich in Sperrgebiete, und die eigenen vier Wände werden für viele sehr eng. Das alles nimmt die Bevölkerung zunächst stoisch auf sich, um einen Teil beizutragen zum großen gemeinsamen Ziel, die weitere Verbreitung des Virus einzudämmen, vor allem die älteren und gefährdeten Mitbürger*innen zu schützen und das Gesundheitssystem nicht zum Absturz zu bringen.

In diesem historischen Zeitfenster setzt STILLSTAND an: Schon in der Frühphase, in der zum Beispiel Filmteams nur noch unter höchsten Sicherheitsvorgaben im öffentlichen Raum drehen durften, machte sich Nikolaus Geyrhalter auf den Weg und drehte „Filmzeugnisse aus einer Zeit, in der es eigentlich kein Filmmachen geben konnte“ (Stefan Grissemann): Momentaufnahmen und Plansequenzen menschenleerer Orte genauso wie Interviews mit Menschen, für die der Begriff „Ausnahmezustand“ plötzlich konkret geworden ist.

Flughafenmitarbeiter*innen entladen Tonnen an Schutzausrüstung aus Passagiermaschinen, die reihenweise geparkt am Flughafen Wien umsonst auf die Rückkehr der Passagiere warten. Den Ostergottesdienst hält ein Pfarrer vor der leeren Kirche und spricht die Segnung nur in ein Tablet, über das die Messe online an die Gläubigen übertragen wird. Die Bevölkerung wird im Corona-Drive-In direkt im Auto auf Covid-19 getestet, und große und kleine Geschäfte und Shopping Center stehen entleert in der Landschaft, als wären sie bereits zu Relikten einer jäh ausgelöschten Wohlstandsgesellschaft geworden.

Nikolaus Geyrhalter über die Arbeit an STILLSTAND: „In vielen Interviews wurde uns von der Hoffnung auf langfristig positive Veränderungen unserer Gesellschaft erzählt, vom Wunsch nach mehr Zusammenrücken und mehr Für-einander-Dasein. Oft wurden Aspekte der Krise ja durchaus positiv wahrgenommen, aber: Der flugzeuglose blaue Himmel und die autofreien Straßen, der plötzlich fehlende Stress und die viele Zeit mit der Familie – was wird davon bleiben? Wohin wollen wir zurück? Wo wünschen wir uns hin?“

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Anmerkungen von Claus Philipp

Wo die Räume überfüllt waren, bewegte sich plötzlich kaum noch etwas; wo in alltäglicher Hast die Zeithorizonte enger wurden, kam es plötzlich zu so etwas wie einer Entschleunigung: Im Zuge der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Lockdowns fühlte zumindest ich mich immer wieder an die entvölkerten Landschaften von Nikolaus Geyrhalters Film HOMO SAPIENS erinnert. Irgendwo im Hinterkopf hallten noch Interviewpassagen aus Geyrhalters ÜBER DIE JAHRE nach: Geschichten der Erschöpfung und Stagnation nach kontinuierlicher Beschneidung menschlicher Lebensbedingungen und Lebensläufe.

Die Logik der Massenmedien sah und zeigte in und rund um die gesellschaftlichen Lockdowns naturgemäß anders: Sie erzählte die Geschichte der Pandemie als Katastrophenfortsetzungsroman mit täglich neuen, einander an Hochspannung überbietenden Episoden. Oder als Triumph der Statistik, bei dem eine phasenweise beständig steigende Tabellenkurve der Opferzahlen sich von den unterschiedlichsten Anstrengungen von Politik und Gesellschaft kaum eindämmen ließ.

Insofern kann man nur froh sein, dass Nikolaus Geyrhalter so schnell auf die Krise reagiert und sich, mit situationsadäquat kleinstem Team, auf den Weg gemacht hat: Die Bilder und Töne, die er gesammelt hat, sind nicht zuletzt ein wesentlicher, gewichtiger Beitrag zu einem Archiv zunehmend beschleunigter Zeitläufte. Der STILLSTAND, den der Titel seines Films in einem insgesamt doch sehr bewegten öffentlichen Raum behauptet oder zumindest in Frage stellt, ist ja wohl eine Zuspitzung dessen, was der französische Medientheoretiker Paul Virilio einst für „alltägliche“ Kriegszustände der zeitgenössischen Öffentlichkeit(en) proklamierte: Er ist ein „rasender Stillstand einer Gesellschaft, die Zeit und Raum hochtechnologisch beherrscht, aber damit an der Auslöschung ihrer selbst arbeitet“. Mitunter versucht sich ebendiese Gesellschaft auch an so etwas wie „Rettung“ und macht, wie STILLSTAND zeigt, dabei sehr eigene Erfahrungen. Zu bedenken und zu recherchieren, wo man diese Erfahrungen sieht und welche neuen Zusammenhänge das ergibt, halte ich für eine lohnende Anstrengung „in Gefahr und größter Not...“

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Interview mit dem Regisseur Nikolaus Geyrhalter

Mit Mitte März 2020 war Österreich plötzlich im covidbedingten Lockdown und unser gewohnter Alltag stand plötzlich still. Wie schnell haben Sie entschieden, die ersten Bilder für diesen Film zu drehen?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Ganz am Anfang ist auch bei mir alles stillgestanden, und ich denke, es war nicht nur mir klar, dass da ein Thema in der Luft liegt. Aber ich hätte wahrscheinlich nicht so schnell reagiert, hätte nicht der Dramaturg Claus Philipp unsere Produktionsfirma kontaktiert und uns mit Nachdruck ermutigt, diese Ausnahmesituation von ihrem Anfang an – also quasi ab sofort – filmisch aufzugreifen. Normalerweise werden Filme in verschiedenen Stufen entwickelt und finanziert, bevor man mit der Umsetzung beginnt. Dafür war hier keine Zeit. Wir haben das notwendige Equipment in der Firma gehabt, ausborgen wäre damals auch kaum möglich gewesen. So haben wir dann relativ schnell begonnen, zunächst auf unser eigenes Risiko zu drehen, um die spannendste Phase des Ausnahmezustandes nicht zu versäumen. Die ersten Bilder sind jedenfalls in der frühen ersten Lockdown-Phase entstanden, und wir haben gemerkt, dass zu dieser Zeit außer uns tatsächlich wenige Filmteams unterwegs waren.

Es gibt Bilder wie die Flugzeugflotte der AUA am Boden, leere Parkplätze am Flughafen, kein Mensch beim Stephansdom/in Schönbrunn. War da zu Beginn auch der Reiz für den Filmemacher und Fotografen, bis dahin undenkbare, ungesehene Bilder festzuhalten?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Natürlich hat mich das auch an die Leere in den Bildern von Homo Sapiens erinnert. Es hat sich die Chance ergeben, einen Ausnahmezustand, mit dem keiner gerechnet hatte, festzuhalten. Es war allen bewusst, dass da etwas Großes im Gange war. Etwas, das in der Theorie zwar entworfen wurde, von dem die meisten Menschen aber nie angenommen hatten, dass es tatsächlich eintreten könnte. Ich habe mich sehr nahe an der Ursprungsidee des Dokumentierens gefühlt: Etwas filmisch festzuhalten, ohne zu werten, einfach weil es geschieht.

Es hatte niemand eine Vorstellung davon, welch lange Strecke vor uns lag. Mit welchen Ideen und welcher Perspektive sind Sie in den Dreh gegangen?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Eine der Ideen war die Frage, wie ein Land oder eine Stadt im Ausnahmezustand weiter funktioniert, welche Prozesse weiterlaufen, während die meisten Menschen zumindest im ersten Lockdown ihre Wohnung nicht verlassen konnten. Es hat mich – zumindest auf der Ebene der Stadt – auch interessiert, wie Politik in so einer Situation funktioniert und wie Entscheidungen getroffen werden, wenn man jeden Tag die Dinge neu denken muss. Die Frage, was wir filmen wollten, war einfach beantwortet: Was ist alles anders? Das war praktisch alles. Fokussiert haben wir uns auf Institutionen, die in diesem unerwarteten Setting auf ihre Art funktionierten oder zum Teil erstmals funktionieren mussten. Notfallpläne waren existent, waren aber nie durchgespielt worden. Unterm Strich ging es vor allem darum, diese besondere Zeit festzuhalten, von der ich das Gefühl hatte, dass sie allen sehr viel abverlangte, und dass man sie nachher gerne schnell wieder vergessen oder verdrängen würde. Ich war davon ausgegangen, dass eine Unmenge an Filmen entstehen würden – inklusive vieler privater Filme. So viele waren es dann erstaunlicherweise aber nicht. Ich verspürte in mir auch die Aufgabe des Chronisten. Ich hätte es für absurd gehalten, diese außergewöhnliche Zeit nicht festzuhalten.

Was in Ihren Filmen eher selten vorkommt, sind Gespräche mit Protagonist:innen. Warum ist es in STILLSTAND wichtig, die Menschen zu Wort kommen zu lassen?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Dieses Bild muss ich zurechtrücken. Ich habe drei Filme ohne Gesprächspartner:innen gemacht. Alle anderen enthalten Interviews. Es prägen sich nur die Filme ohne Interviews stärker ein, weil das ungewöhnlich ist. Generell führe ich sehr gerne Gespräche. Hin und wieder stellt sich heraus, dass die Interviews nicht das halten, was sie vom Setting her versprochen haben. Dann muss man radikal sein. Es ist aber wirklich nicht so, dass ich nur wortlose Filme drehen möchte. Bei STILLSTAND war es klar, dass ich Menschen interviewen wollte. Es ging um die Betroffenheit der Personen und vor allem um deren persönliche Erfahrungen, privat wie beruflich. Das hätte sich alleine durch Bilder nicht erzählen lassen.

Wie konnten Sie trotz der strengen Auflagen, Drehgenehmigungen auch für sehr außergewöhnliche Orte und Situationen erhalten? Unter welchen erschwerten Bedingungen haben Sie gedreht?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Es war in gewisser Hinsicht ein Privileg, draußen sein zu können und filmen zu dürfen, während die meisten Menschen in den Wohnungen bleiben mussten.
Das hat eine Weile gedauert, bis geklärt werden konnte, dass Filmemachen im öffentlichen Raum als Berufsausübung und als Teil der Pressefreiheit anerkannt war. Wir haben uns da anfangs noch auf unsicherem Terrain bewegt und viel diskutieren müssen, bis wir auf Verständnis getroffen sind, dass wir als Medienvertreter:innen auch systemrelevant waren. Die Recherchen wurden zunächst von Antonia Bernkopf, später von Sophia Laggner durchgeführt. Während ich im ganz kleinen Team gedreht habe, haben sie versucht, Türen zu öffnen. In den ersten Wochen war Corona die willkommene Ausrede für jede Art von Absage. Bald habe ich aber den Eindruck gewonnen, dass die Einsatzorganisationen, der Krisenstab und all die Menschen, die sehr überzeugt, sehr viel Arbeit geleistet haben, auch erkannt haben, dass es vielleicht schön ist, wenn von diesem Einsatz etwas überbleibt. Der Film ist in einer gewissen Weise auch ein Denkmal an die Menschen, die das Krisenmanagement getragen haben. Was ich jetzt merke, ist, dass vielen Bildern, die unter praktisch unmöglichen Umständen entstanden sind, diese Anstrengung kaum mehr anzusehen ist. Für gewisse Orte, die in der späteren, weniger restriktiven Zeit wieder leichter zugänglich waren, hat sich die Wahrnehmung wieder verändert. Orte, wo es wirklich eine Leistung war, sie zu diesem Zeitpunkt zu drehen, wirken jetzt geradezu banal. Zu dem frühen Zeitpunkt, zu dem wir mit unserer Kamera an manchen Orten drehen konnten, war das sehr außergewöhnlich. Wir haben je nach Dreh natürlich unterschiedliche Sicherheitsvorgaben erfüllen müssen, Maskenpflicht sowieso und oft auch die weißen Einweganzüge. Wir waren ohnehin ein bewusst kleines Team, nicht nur weil das Arbeiten so am einfachsten war. Es herrschte auch das Risiko der Ansteckung, was besonders zu Beginn uns sehr beschäftigt hat. Ich wollte nicht für eine unnötige Ansteckung verantwortlich sein. In den ersten Wochen habe ich entweder alleine oder mit Sergey Martynyuk oder Lenka Mikulova, die den Ton machten, gedreht. Wir waren sehr diszipliniert und vorsichtig, und haben alle möglichen Maßnahmen eingehalten. In den Krankenhäusern sind wir vor den Drehs eingeschult worden, wie man sich an- und auszieht. Es war für uns trotz der erschwerten Bedingungen gut möglich zu arbeiten, und weil wir ein so kleines Team waren, haben wir auch niemanden bei der Arbeit behindert.

Welchen Emotionen sind Sie begegnet? In den Interviews ist mehrmals etwas von der Hoffnung zu spüren, dass die Gesellschaft von diesem Nullpunkt neu hochgefahren werden könnte.

NIKOLAUS GEYRHALTER: Diese Hoffnung ist zu Beginn wirklich oft zum Ausdruck gebracht worden: Wie schön der Himmel ohne Flugzeuge ist, wie angenehm es ist, ohne dichten Autoverkehr Rad zu fahren. Man war der Meinung, davon könnte man etwas in die Zeit nach der Pandemie mitnehmen. Anfangs war diese Illusion für uns alle notwendig, um das Ganze zu überstehen. Bei den Protesten, zu denen es dann später kam, haben wir festgestellt, dass es viel Wut gab. Vielen Leuten hat die Einsamkeit nicht gutgetan. Es wurde nach Schuldigen gesucht. Die Illusionen der Anfangszeit sind, wie wir jetzt schon feststellen können, sehr schnell enttäuscht worden. Die Welt funktioniert wie früher, noch ein bisschen schneller und hat zusätzliche Probleme. Es hat offensichtlich einen Krieg gebraucht, um die Pandemie als beendet zu betrachten.

STILLSTAND ist ein Film, für den Sie nicht wie in anderen Arbeiten weit gereist sind, um eine weltumspannende Sicht auf die Themenstellung, mit der Sie sich auseinandersetzen, zu werfen. Der Film entstand in einer Situation, für die der kleine geographische Radius eine Gegebenheit war. Haben Sie im kleinen Spielraum dennoch versucht, das große Ganze zu erfassen?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Wien und Österreich stehen in STILLSTAND prototypisch für viele Städte und Länder, in denen es ähnlich war, wo Corona nicht ganz so schlimm war, wie man am Anfang befürchtet hatte, aber dennoch schlimm genug. Ich habe mich nie mit dem Gedanken getragen, einen großen, schon gar nicht weltumspannenden Film zu machen. Um ehrlich zu sein: Als ich zu drehen begonnen habe, war mein Gedanke der, diese Bilder für die Archive zu schaffen. Normalerweise beginne ich einen Film zu drehen, weil es mir ein Anliegen ist, dass er sein Publikum findet. Bei STILLSTAND war das in den ersten Drehwochen nicht der Fall. Ich hatte das Gefühl, hier passierte gerade etwas, das man festhalten sollte, damit es, wenn so etwas in hundert Jahren wieder passiert, Bilder davon gibt. Wir haben ja kaum Bilder von der Spanischen Grippe. Das Projekt ist dann gewachsen; sobald es dafür Förderung gab, war auch klar, dass daraus ein Film entstehen würde. Ich habe mir aber nie überlegt, wer das Publikum für diesen Film sein sollte. Es gab einerseits ein noch nie dagewesenes Ereignis und meinerseits die Erfahrung und Routine, um so etwas auch unter schwierigen Bedingungen festzuhalten. Das hat gereicht, um mich an die Arbeit zu machen.

Man erlebt in den ersten Interviews die Annahme, dass diese Situation vielleicht einige Monate anhalten würde. Wie sind Sie selbst im Team mit der Ermüdung und der nicht erwarteten Dauer der Pandemie umgegangen?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Es war tatsächlich für alle ermüdend. Der Film handelt ja nicht nur von den offiziellen Institutionen, sondern z.B. auch von der Schulklasse meines Sohnes, die zwei Jahre lang Maske auf, Maske ab, Homeschooling hin, Präsenzunterricht her erlebt haben. Und natürlich die Nasenbohrertests jeden Morgen. Es war für alle kräfteraubend. Und auch für uns als Filmteam, da es kein Ende nahm. Wir haben uns lange die Frage gestellt, wann und wie der Film aufhören wird. Am Schluss war die Pandemie ja immer weniger greifbar, und es gab außer Demos und Unzufriedenheit nicht mehr sehr viel zu berichten. Wir haben uns mit dem nötigen Abstand im Schnitt entschieden, den Film in einer relativ frühen Pandemiephase nach ca. eineinhalb Jahren enden zu lassen und nicht die volle Periode durchzuspielen. In gewisser Weise war es ein Projekt ohne Ende. Der Dreh war ja so aufgebaut, dass wir nicht eine Dramaturgie vorausgesetzt haben, sondern dass die Dinge passiert sind, wie sie passiert sind. Da der Schnitt chronologisch ist, hat die Realität die Chronologie und Dramaturgie vorgegeben.

Der Film schafft so auch zwei Perspektiven: zum einen den Blick aus der Mitte der Katastrophe, wo alle nur auf kurze Sicht und mit wenig Vorerfahrung handeln mussten, und nun aus der Distanz ein Rückblick, wo man so manches besser wüsste.

NIKOLAUS GEYRHALTER: Der Blick verändert sich mit der Zeit immer wieder. Wir hatten schon mal sehr früh mit dem Schnitt begonnen, wo wir noch mitten in der Pandemie steckten und selbst einen ganz anderen Blick darauf hatten. Mit jedem halben Jahr Abstand hat sich der Blick und damit der Schnitt gewandelt, und die Perspektive wird sich auch weiterhin verändern. Bei den Probescreenings haben wir sehr stark erlebt, dass jede Person ihr ganz persönliches Erleben dieser Corona-Pandemie hatte und sich auch wünscht, diese Perspektive wieder zu sehen. Das kann und will der Film nicht einlösen. Ich spüre aber, dass niemand gleichgültig bleibt: Die Menschen gehen zum Teil betroffen, zum Teil mit Zorn, zum Teil mit einem Lächeln raus. Jeder wird auf diese Zeitreise mitgenommen.

Gerade weil jeder eine so individuelle Wahrnehmung der Ereignisse hat, ist ein interessanter Aspekt die offizielle Krisen-Kommunikation. Was wollten Sie davon festhalten?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Uns hat interessiert, was plötzlich anders war. Die Kommunikationspolitik war somit ein Teil davon. Kommunikation ist privat wie beruflich ein großes Thema geworden. Zu Beginn von Corona haben wir noch an meinem vorangegangenen Film Matter Out of Place gedreht. Mit einem Schlag war Corona der willkommene Vorwand, uns zu Dreharbeiten nicht zuzulassen. Und das ist teilweise bis heute so geblieben. Wie sehr die offizielle Kommunikationspolitik gegenüber der Bevölkerung inszeniert wurde, ist durch unsere Bilder von den Pressekonferenzen der Regierung angedeutet. Wir hätten dazu auch interessante Interviews, die wir angesichts der Menge an Material leider nicht in den Film nehmen konnten. Es gab seitens der Politik offizielle Statements, aber für Journalisten keine informelle Ebene, um etwas nachzufragen. Das war durchschaubar und eine sehr prägende Erfahrung in dieser Zeit. Wir hätten uns auch sehr viel stärker für die Arbeit der Bundesregierung interessiert, die war aber unzugänglich, auch wenn wir Aufnahmen mit dem damaligen Gesundheitsminister Rudolf Anschober machen konnten. D i e öffentliche Figur der Pandemie war Sebastian Kurz, der Bundeskanzler, und so wie er jetzt im Bild vorkommt – unnahbar und nur über den Bildschirm – ist, glaube ich, die adäquate Form der Darstellung.

In der Kommunikation der Regierung geht es viel um die Infektionszahlen als Parameter für den Erfolg der Pandemiepolitik. Gesundheitsstadtrat Hacker sagt sehr früh einen wichtigen Satz: Auf Dauer ist diese Isolation nicht gut für die Gesellschaft. Über die Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen hinaus, wird hier deutlich, dass es auch um einen sozialen Aspekt – die Aufrechterhaltung des Funktionierens einer Gesellschaft geht.

NIKOLAUS GEYRHALTER: Dieser Aspekt spiegelt sich bei uns auch zum Teil über die Erfahrungen der Lehrerin wider. Die Lehrerin, mit der wir immer wieder gedreht haben, war sehr engagiert und entschlossen, die Klasse gut zu begleiten. Sie hat das durchgezogen, bis ihr am Ende selbst die Energie ausgegangen ist. Was es bei allen jungen Menschen gemacht hat, ist, dass die Online-Zeiten sehr viel größer geworden sind. Das wäre vielleicht ohnehin passiert, aber gehört zu den Entwicklungen, die ungemein beschleunigt wurden. Wenn man mit 17 die Erfahrung macht, dass zu Hause vor dem Computer zu sitzen die Normalität ist, weil nichts anderes passiert, dann ist das sehr wahrscheinlich nicht irrelevant für die weitere Entwicklung.

Was STILLSTAND auch zeigt, ist der Versuch, einen geordneten Ablauf zu implementieren und dann in weiterer Folge, wie durch ein hohes Maß an Restriktionen ungeordnete Kräfte eine wachsende Dynamik entwickeln. Wann ging es los mit den Demonstrationen? Welche Entwicklungen haben Sie da wahrgenommen?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Es ging relativ früh los. Die erste Demonstration, die wir gedreht haben, fand bei der Staatsoper statt, zunächst gegen die Corona-Maßnahmen. Auf dieser Demo sagt ein deutscher Arzt, dass der Berliner Virologe Christian Drosten ein Lügner sei und es wurden rituell Masken verbrannt. Am Anfang gingen die Leute auf die Straße, weil sie sich nichts vorgeben lassen wollten, später ging es gegen die Impfung und die Regierung sowieso. Bei den letzten Demos, die wir im Film zeigen, sind die Thematiken recht universell geworden und richten sich gegen alles Mögliche. Dafür war Corona ein fruchtbarer Boden: Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich, wenn sie sich organisieren, eine richtig laute Stimme verschaffen können. Dieses Wissen haben sie gewonnen und damit wird auch weitergearbeitet. Dass so etwas schnell von politischen Gruppen vereinnahmt wird, ist nicht verwunderlich.

Gibt es die Gegnerschaft nur als demonstrierende Massen oder haben Sie auch Gespräche mit Demonstrierenden geführt?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Wir sind gar nicht darum herumgekommen, mit den Leuten zu reden. Schon allein deshalb, weil man uns, die wir mit einer Kamera präsent waren, immer mehr zur Rede stellte. Wir sind in eine Position gekommen, in der man uns mit dem Staat oder Maßnahmen oder dem ORF gleichgesetzt hat. Menschen mit Kamera waren am Ende ein totales Feindbild. Bei den letzten Demos ist das Arbeiten für uns wirklich unangenehm geworden. Ich drehe mit großen Totalen, oft gerne von oben. Das bedeutet, dass ich z.B. auf einem Autodach stehe oder eine große Leiter mitbringe und dann lange in einer Position drehe. Wir sind dann wie ein Leuchtturm über eine längere Zeit gut zu sehen. Ich habe mich den Diskussionen mit den Menschen gestellt. Am Schluss war es so, dass ich mehr diskutieren musste als ich filmen konnte. Es herrschte eine universelle Wut. Man muss aber einräumen, dass auf diesen Demos auch Menschen waren, denen es ein echtes Anliegen war, etwas zu verändern. Grundsätzlich sind aber der Tenor immer rauer und die Wut immer größer geworden. Wir haben unendlich viele Demos gedreht, weil jede jeweils als die größte angekündigt war, auf der etwas passieren würde, was gottseidank nicht der Fall war.

Im Sichten von STILLSTAND hat man das Gefühl, das Echo anderer Arbeiten von Ihnen zu spüren: Homo Sapiens haben Sie selbst schon erwähnt, ich denke auch an Matter Out of Place hinsichtlich der Müllmengen, die durch Schutzkleidung, Masken, Gurgeltests entstanden sind, aber auch an Donauspital angesichts der medizinischen Intensivversorgung. Hier schließt sich ein Gefüge.

NIKOLAUS GEYRHALTER: Ich denke nie an meine anderen Arbeiten. Wenn ich an etwas arbeite, versuche ich diese Arbeit so gut wie möglich zu erledigen. Den Rest machen dann die Filmtheoretiker. Es ist mir jedenfalls kein Anliegen, mich selbst zu zitieren.
Aber die große Dimension dieser Maßnahmen ist natürlich ein Thema. Es ist im Hintergrund unheimlich viel passiert, weil es eine riesige Anzahl an Menschen zu schützen gab. Dafür brauchte es Material und eine Logistik. Man mag manches kritisieren, aber in dieser Hinsicht sind wir in Wien ziemlich gut versorgt gewesen im Vergleich zu anderen Städten und Ländern.

Über die vielen Aspekte der Systemerhaltung und des individuellen Umgangs mit der Ausnahmesituation der Pandemie wirft der Film eine grundsätzliche Frage auf: Wie schnell steht unser ganzes Funktionieren in Frage?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Darin sehe ich ein großes Erwachen – festzustellen, wie schnell unser System kollabieren kann. Nämlich sehr schnell. Im aktuellen Fall war der Grund eine weltweite Pandemie, es könnte aber auch andere Gründe haben. Die Sicherheit, in der wir uns vorher gewogen haben und in der wir uns schon wieder zu wiegen beginnen, ist meiner Meinung nach eine, die einzig auf dem Prinzip Hoffnung basiert.
Es gibt genug Szenarien, die eintreffen könnten, und hoffentlich nicht eintreffen werden. Natürlich verdrängt man das im Alltag, und ich gehöre nicht zu den Preppern, die sich speziell auf solche Szenarien vorbereiten. Nur… wenn man sich mehr damit beschäftigt … da kann man mit Pripyat beginnen. Dort haben auch Menschen gelebt und von heute auf morgen war ihr Lebensraum verstrahlt. So etwas könnte uns mit allen Atomkraftwerken, die jenseits der Grenzen stehen, jederzeit passieren. Der Krieg in der Ukraine ist das nächste Beispiel. Menschen, die friedlich gelebt haben, befinden sich von heute auf morgen in einem Kriegszustand. Männer, die meinten, in einem freien Land zu leben, müssen in den Krieg ziehen.
Naturkatastrophen, Blackouts … unsere Existenz ist von einem sehr komplexen Zusammenspiel ganz vieler Faktoren abhängig. Sobald da irgendetwas ausfällt, ergibt das sehr schnell ein ziemliches Drama. Das könnten wir aus der Pandemie gelernt haben. Ich habe aber eher den Eindruck, dass wir alle froh sind, dass es vorbei ist, und wir deshalb keine großen Lehren daraus ziehen wollen. Es gibt einiges, was ständig kollektiv über uns hereinbrechen könnte.

… und das Sie in Ihren Filmen immer wieder anstoßen?

NIKOLAUS GEYRHALTER: Natürlich. Das sind die Dinge, die mich interessieren, weil ich finde, dass man sie diskutieren muss. Die Menschheit insgesamt ist ein sehr komplexes, filigranes System. Wir sind weder besonders freundlich zueinander noch zu unserer Umgebung, und so wie wir jetzt funktionieren, geht sich das meistens gerade haarscharf irgendwie aus. Ob es das beim großen Thema Klima auch tun wird, ist die Frage.

Interview: Karin Schiefer
September 2023

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Credits

Regie & Kamera: Nikolaus Geyrhalter
Montage: Gernot Grassl
Regieassistenz & Recherche: Sophia Laggner
Ton: Sergey Martynyuk, Lenka Mikulova
2. Kamera & Kameraassistenz:
Sebastian Arlamovsky, Alfred Zacharias
Dramaturgische Beratung: Claus Philipp
Farbkorrektur: Lukas Lerperger
VFX: Sebastian Arlamovsky

Sound Design: Nora Czamler,
Manuel Meichsner

Tonmischung: Alexander Koller
Produktionsleitung & Recherche:
Antonia Bernkopf
Produzenten: Nikolaus Geyrhalter,
Michael Kitzberger, Wolfgang Widerhofer,
Markus Glaser

Produktion: NGF Geyrhalterfilm

Mit Unterstützung von: Österreichisches Filminstitut, Filmfonds Wien, ORF Film/Fernsehabkommen, Filmstandort Austria